Saturday, October 2, 2010

Kreise und allsowas

Ich ziehe Kreise in den Sand, tief und dunkel, schwärzlich, klebrig, brennend, verschlingend, geduldig, langsam, präzise und nichts auslassend; ich ziehe sie in den Sand, leicht wie ich bin, wie der Wind um mich fliege ich schrecklich und brennend, zerstörend, und ziehe meine Kreise, ohne Anfang und ohne Ende, pure Lust in meinen Gliedern; ich bin über- und ohnmächtig, unberührbar, im Nichts der Welt habe ich mich selbst gefangen und lasse mich frei in jedem Moment; wer kann mich besiegen? Ich frage: wer kann mich besiegen?

Meine Menschen ziehen ihre Kreise für mich.
Jeden Tag stehen sie auf und bringen ihre wunderbaren Körper in Bewegung, leichtfüßige Tote, die um mich herumschwirren wie Falken mit der Wendigkeit von Fliegen, mir das Fleisch vom Körper hacken und mir Opfer bringen, mir ihre eigenen Körper anbieten, dass ich sie verschlingen kann und weiter meine Kreise ziehe. Sie sind überall, die Kreise, in meinem Schreiben, in meinen Händen, in meiner Bewegung.
[Spiralen wunderbarer Farben die auf- und absteigen, dem Himmel zuschweben und auf der Erde zerschellen.]

Ich sitze in einem abgedunkelten Raum, fahles Licht fällt durch die Jalousie; Passanten krepieren unten auf der Straße, Autos rasen vorbei, es scheint sie wollten meine Gedanken verbrennen, unbezwingbare Wut und sie brüllen, sie fangen sich ihre Besitzer und sperren sie ein, wie Ehefrauen auf Hüften aus Glas eintrümmern; gierig, berechenbar, gewaltsam, NÜTZLICH sind sie, pragmatische Verwandler vom Spielzeug zur Waffe zum Helfer zum Liebesobjekt zum Menschen immer, der sie besitzt und ihnen seinen Willen aufzwingt, um an ihrer kalten Lust teilzuhaben, und ich sitze in einem abgedunkelten Raum und eine Fliege zieht joviale Kreise um meine Ohren. Zu viele Kreise für heute, es gibt einen Punkt an dem manches aufhört, und hinab fällt die Fliege in menschliche Metalleimer die nichts konservieren.

Am nächsten Morgen wache ich früh auf, drei weitere Fliegen haben sich in meinen Raum leiten lassen, meine Gastfreundlichkeit hat sich schnell verbreitet, und es freut mich dass ich endlich und überraschenderweise ein paar Verbündete habe, die vielleicht auch mit mir frühstücken wollen; es gibt klares Wasser frisch aus dem Hahn und blauen Zigarettenrauch danach.
Das Frühstück hat sich gelohnt, ich bin satt, und meine neuen Freunde sind verständige Leute, ein leichter Hinweis auf die Zeit hat sie dazu veranlasst den Raum wieder mir zu überlassen, und so bereite ich mich darauf vor, meinen täglichen Verpflichtungen nachzugehen. Die Freuden der Pflicht erfülle ich zusammen mit lauter Bürokraten, von denen keiner von seiner wahren Berufung jemals etwas erfahren wird; die höchsten Sphären dieser Zunft müssen manche erzwingen, sich innerlich abtöten, und die Verdopplung und Verdreifachung und Unumgänglichkeit aller Regelungen werden zur Lebensphilosophie, bis sie jede Faser deines Fleisches besitzen. In einer günstigen Umgebung erfährt diese Lust einige Sprünge, trotzdem erfordert es eine unbeugsame Disziplin oder eine schreckliche Erfahrung alles Spielerische abzuwerfen; aber davon verstehe ich eigentlich nicht viel, wie auch ohnehin von vielen Dingen nicht.
Tappsig und unbeholfen, krüppelig zeigen sich die ersten Gebrechlichkeiten eines uralten neuen Tages, der einen mächtig an unsere Gebundenheiten erinnert; ich mag ihn nicht. Sich hinauswagen in eine unfreundliche Umgebung, deren Ablehnung ich mir nur erlauben kann weil ich distanziert lebe; wobei ich schon vergessen habe, ob die Ablehnung aus der Distanz oder die Distanz aus der Ablehnung oder wie...

Auf der Arbeit werde ich nicht mehr angesprochen, ich stehe sehr unter Stress und bin schnell frustriert. Es gibt nichts Schlimmeres für mich als diese Kontakte, jeder kann mich nach Lust und Laune beeinflussen und ich bin unglaublich schwach, als stünde jemand neben mir und würde all mein Blut rasend schnell in einen Eimer laufen lassen. Man tritt mir auf den Kopf, und weil sie so menschlich sind und ich so distanziert bin ich ihnen nicht böse; ich verurteile nicht was andere tun, umso mehr das was ich tue, aber ich ziehe keine Kreise mehr. Kreise brauchen Zucker und Blut, und weil der Zucker im Blut und das Blut im Eimer ist habe ich von beidem nicht viel. Wenn ich mein Blut wenigstens mit in mein Zimmer nehmen könnte... aber ich lasse alle ein- und mehrmals trinken, bis ich in meinem warmem Bett umgeben von wohliger Gleichgültigkeit zusammenklappe wie ein riesiges Kartenhaus.
Ich träume dann manchmal, in meinen Träumen sieht die Welt einfacher aus, es ist das alte Farbenspiel; überzeichnete Wünsche tauchen auf, die Figuren sind wie von einem unbegabten Fünfjährigen bemalt, die Konturen der vorgefertigten Formen sind dick und schwarz und unübersehbar, doch dieser dämliche Junge malt einfach darüber hinweg, so dass man ihm gern vorschlagen würde, sich die Hände zu waschen und lieber nach draußen zu gehen, denn er übertritt die offensichtlichen Regeln die doch jeder gelernt hat, man malt nicht über die Konturen hinaus, dafür sind sie ja da, und es findet auch jeder viel schöner wenn man das nicht tut. Ich hasse und liebe diesen Jungen, er macht mir das Aufstehen schwer; ich will bei ihm bleiben und mit ihm malen, so dass man keine Konturen mehr erkennt, alles verwischen, nass machen, zerknüllen, verbrennen und dann die Reste demjenigen der diese Bildchen produziert ins Essen mischen. Mit schönen Grüßen von Jonas! Und dann hindert er mich doch wieder in vielen Dingen. Wie soll man konzentriert Konservendosen sortieren, wenn man unförmige, bekrickelte, wunderbare Männchen vor Augen hat?
Doch dann sehe ich die Konservendosen an, und sie formen von selbst bekrickelte Männchen, dann macht meine Arbeit Spaß und ich komme mir nicht mehr sehr dumm vor, sondern sortiere fröhlich, so dass mein Chef stehenbleibt und sich einmal seiner Motzerei enthält: schaut euch mal den an, so fröhlich will ich hier alle bei der Arbeit haben! Ein Lachen im Gesicht, da geht die Ravioli wie von selbst ins Regal! Der zynische, fette Sack.
Ich bin doch eigentlich auch recht erfolgreich, habe den besten Durchschnitt auf eine Stunde in der Stadt und Umgebung, bekomme Boni und Lageraufgaben, denn die sind am einfachsten zu bewältigen, weil man nicht unter Stress steht, doch oft lehne ich sie ab, meine Arbeit gefällt mir, ich bin gut darin. Ich habe einmal jemanden aus einem anderen Markt getroffen, der den Landespreis der "Lager- und Sortierarbeit" fünf Mal hintereinander gewonnen hatte. Den bewundere ich mehr als jeden Fußballer, Präsidenten, Literaten der Welt. So ein verrückter Mensch, er war mir sympathisch, auch wenn er tatsächlich nicht mehr ganz bei sich zu sein schien. Was musste er in den Konservendosen für Muster, für Geschichten und Wahrheiten sehen, dass er so gut war! Ich konnte mich damals kaum halten beim Gedanken an das Werk dieses Künstlers.
Und dann...erscheint mir mein Leben manches Mal doch wieder leer. Meine Familie sind meine Kollegen, mein Freunde sind drei Fliegen, meine Erwartungen sind nicht nennenswert, an Frauen, an Heirat oder Kinder denke ich nicht, an einem besseren Job habe ich kein Interesse, es gäbe da auch nach langer Suche nichts wirkliches für mich. Bei näherer Betrachtung sind die Kreise die ich ziehe nicht tief und dunkel, schwärzlich, klebrig, brennend, verschlingend, geduldig, langsam, präzise und nichts auslassend, sondern die Spuren am Strand die von der leichtesten Brandung verwischt werden. Ich bereue nur, dass mich die Tiefe dieser Spuren kaum berührt, aber was soll ich tun, was hat es damit auf sich? Wer hat mir diese oberste Regel gegeben, die alle meine Freiheit zunichte macht, mein ungewolltes Streben in irgendwelche unbestimmten höheren Ebenen, das sich einschleicht in meine Zufriedenheit... frei will ich mich davon machen, aber ich kann doch nicht auch noch gegen die Freiheit selbst frei sein. Ein dauernder Verrat, eine Negation, so absurd wie jeder Bürojob, wie jedes Streben nach Geld. Fremd bin ich in dieser Welt, und fremd werde ich bleiben.